Die dbb bundesfrauenvertretung forderte auf ihrer Fachtagung, dass Sorgearbeit nicht länger für finanzielle Unsicherheit steht. Der Handlungsbedarf ist enorm und die Zeit drängt.
„Wir sind hier, um Sorgearbeit sichtbar zu machen, angemessen zu würdigen und gerecht zu verteilen“, betonte Milanie Kreutz, stellv. dbb Bundesvorsitzende und Vorsitzende der dbb bundesfrauenvertretung zum Auftakt der Tagung am 16. April 2024 in Berlin. „Sorgearbeit betrifft uns alle und ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, die in allen Bereichen unserer Gesellschaft Anerkennung finden muss.“ Die Gewerkschaften müssen weiterhin auf politische Reformen drängen, die Frauen in allen Lebensphasen unterstützen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern. Kreutz appellierte an die Politik: „Um echte Fortschritte zu erzielen, müssen wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass Sorgearbeit nicht länger für finanzielle Unsicherheit und Altersarmut steht, sondern als das anerkannt wird, was sie wirklich ist: eine unschätzbare Leistung für unsere Gesellschaft.“ Beispielsweise sei es an der Zeit, Fürsorgeverantwortung als ein Merkmal im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz aufzunehmen.
Kreutz: Wir stehen an einem Wendepunkt
Denn: Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Landes hängt maßgeblich von der gleichberechtigten Teilhabe aller Geschlechter ab. Laut Gender Gap Report 2023 hinkt Deutschland im internationalen Vergleich bei der Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft ziemlich hinterher, insbesondere was die Teilzeitquote und den Anteil von Frauen in Führungspositionen betrifft. „Diese Situation erfordert nicht nur eine Neubewertung der Arbeitsmarktstrategien und eine stärkere Förderung von Gleichstellung am Arbeitsplatz, sondern auch ein kulturelles Umdenken in Bezug auf Geschlechterrollen und die Verteilung von Sorgearbeit“, erklärte Kreutz. „Wir stehen heute an einem Wendepunkt. Ohne sofortiges Handeln verwandelt sich die Sorgearbeitskrise in eine gesamtgesellschaftliche Krise. Die finanzielle Benachteiligung ‚typischer‘ Frauenberufe muss ein Ende haben. Gleichzeitig muss die Gesellschaft Geschlechterstereotype aufbrechen und eine Geschlechtergleichheit in der Sorgearbeit herstellen. Nur so können wir den Gender Pay Gap und den Gender Care Gap schließen.“ Es sei Zeit, zu handeln, machte Kreutz deutlich. „Wir müssen Altersarmut wirksam bekämpfen und die Grundlagen für eine gerechtere Zukunft legen. Wir haben die Fakten, wir kennen die Herausforderungen, und jetzt ist es an uns, Lösungen zu finden und umzusetzen.“
Silberbach: Armutsrisiko für pflegende Angehörige eindämmen
„Die Pflege von Angehörigen darf nicht zu Altersarmut führen. Wir brauchen dringend die steuerfinanzierte Entgeltersatzleistung“, forderte dbb Bundesvorsitzender Ulrich Silberbach auf der Veranstaltung. Der dbb habe dem Familienministerium bereits ein Konzept für Familienpflegezeit und -geld vorgelegt. Ein solcher Ausgleich stehe auch im Koalitionsvertrag. „Leider hat sich die Bundesregierung in dieser Sache noch nicht bewegt“, kritisierte Silberbach. Für viele pflegende Angehörige sei es sehr schwierig, die Pflege mit Beruf und Familie zu vereinbaren. Silberbach weiter: „Insbesondere Frauen laufen in Gefahr, ihr Einkommen und ihren Job zu verlieren. Hier muss die Politik mit ausgleichenden Maßnahmen ansetzen.“ Die Pflege von Angehörigen erfordere viel Zeit und Energie und sei im deutschen Gesundheitssystem unerlässlich. „Wir haben in der stationären Versorgung schon lange das Versorgungslimit erreicht“, erklärte Silberbach. „Ohne pflegende Angehörige würde das System kollabieren.“
Lauterbach: Regierungsentwurf noch vor der Sommerpause
Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach: „Von den rund 5,2 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden ca. 4,4 Millionen zu Hause versorgt, meistens von Angehörigen – und das sind in der überwiegenden Zahl Frauen. Sie betreuen ihre Nächsten oft rund um die Uhr, häufig neben dem Beruf. Das verdient deutlich mehr Respekt und gesellschaftliche Anerkennung als heute üblich und braucht aber auch mehr Unterstützung. Daher sorgen wir zunächst dafür, dass pflegende Angehörige die Leistungen zur Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege als einen gemeinsamen Jahresbetrag künftig flexibel einsetzen können. Wir haben das Pflegegeld deutlich angehoben und die Leistungen für die Inanspruchnahme von ambulanten Pflegediensten wurden zum 1. Januar 2024 um 5 Prozent erhöht. Und tritt in der Familie ein plötzlicher Pflegefall auf oder benötigt akut Unterstützung, können sich Angehörige bis zu zehn Arbeitstage pro Jahr freistellen lassen. Das sorgt für Sicherheit und mehr Zeit für die Pflege der Nächsten. Trotzdem werden wir die Bedingungen für die Pflege weiter verbessern müssen. Dazu werden wir noch vor der Sommerpause einen Regierungsentwurf haben.“
Deligöz: Einsatz für eine faire Verteilung lohnt sich für alle
Ekin Deligöz, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium: „Ohne Care-Arbeit könnte unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Doch die ungleiche Verteilung der unbezahlten Sorgearbeit ist ein großes gleichstellungspolitisches Problem. Häufig kümmern sich Frauen um Kinder, Angehörige und den Haushalt, dafür treten sie beruflich kürzer - mit weitreichenden Folgen, wie geringeres Gehalt, weniger berufliche Chancen, eine prekäre Alterssicherung und hohen Armutsrisiken. Wir wollen es Frauen ermöglichen, ein Erwerbseinkommen zu erzielen, das heute und für das Alter ausreicht. Daran arbeiten wir bereits, z.B. mit Investitionen in Kita-Qualität und Ganztagsbetreuung oder mit Maßnahmen, die die Partnerschaftlichkeit von Anfang an stärken, wie die geplante Familienstartzeit. Wir prüfen weiterhin Verbesserungen bei der Familienpflegezeit, die es pflegenden Angehörigen - vor allem Frauen - erleichtern soll, Beruf und Pflege zu vereinbaren. Es lohnt sich für alle, sich für eine faire Verteilung von Care-Arbeit zwischen Frauen und Männern einzusetzen."
Schoß: Finanzielle Fehlanreize beseitigen
Annemarie Schoß, Referentin für Familienpolitik beim Sozialverband VdK, umriss in ihrem Impulsvortrag die sichtbaren Folgen unsichtbarer Arbeit. Ein Großteil der unsichtbaren Arbeit, einer „gesellschaftlich grundwichtigen Arbeit“, leisteten Familien zu Hause. Dabei nehme die Sorgearbeit mit rund 20 Stunden pro Woche den Umfang eines zusätzlichen Teilzeitjobs an. Der damit verbundene Gender Care Gap sei eklatant, denn Frauen leisteten rund 44 Prozent mehr „unsichtbare“ Sorgearbeit als Männer. Das sei auf kaum veränderte Geschlechterrollen in der grundsätzlichen Aufgabenverteilung zurückzuführen, und gesetzliche Regelungen wie Ehegattensplitting, die Behandlung von Minijobs und Details des Krankenversicherungssystems verstärkten die gesetzten Fehlanreize zusätzlich. Anreize für eine gerechtere Verteilung von Sorgearbeit könnten zum Beispiel in Form von Arbeitszeitflexibilisierung, einem verbesserten Pflegeangebot und einer Reform des Ehegattensplittings gesetzt werden. Zudem müsse der Mindestlohn angehoben und Lohnersatzleistungen im Zusammenhang mit Care-Arbeit verbessert werden, um späteren Versorgungslücken entgegenzuwirken.
Hoff: Sorgearbeit in Tarifverträge einbeziehen
Die Auswirkungen demografischer Faktoren auf die Pflegesituation verdeutlichte Dr. Andreas Hoff, Professor für Soziale Gerontologie an der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Hochschule Zittau/Görlitz. „Pflege ist zu einem großen Teil Pflege durch Angehörige, denn 84 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut. Demografiegetrieben wird die Pflegebedürftigkeit insgesamt bis ins Jahr 2025 sehr dynamisch steigen“, so der Wissenschaftler. Im Zuge dieser Entwicklung werde auch die Bedeutung der ambulanten Pflege steigen, während die stationäre Pflege stagniere oder sogar zurückgehe. Außerdem werde sich der Anteil pflegender Angehöriger, die erwerbstätig sind, erhöhen. Um gesundheitlichen Folgen und finanziellen Nachteilen entgegenzuwirken schlug Hoff ein Maßnahmenpaket vor, das sich an den Ergebnissen des zweiten Berichts des unabhängigen Beirates für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf orientiert: Die Einführung einer Entgeltersatzleistung (analog zum Elterngeld) für bis zu 36 Monate sowie eine nach praktischen Kriterien gestaffelte Erhöhung der Freistellung auf maximal 36 Monate. Darüber hinaus sollten die Regelungen der zehntägigen Arbeitsverhinderung für Pflegende inklusive Pflegeunterstützungsgeld auf zehn Arbeitstage pro Jahr erweitert und das Pflegezeitgesetz sowie das Familienpflegezeitgesetz zusammengeführt werden. Der Gerontologe plädierte dafür, Unternehmen und öffentliche Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen. Dazu müsse die bessere Vereinbarkeit von Pflege und Beruf auch Gegenstand von Tarifverhandlungen werden.
„Ich hasse Hausarbeit“, bekannte Ella Carina Werner, Autorin, Satirikerin und TITANIC-Mitherausgeberin, freimütig und beschrieb den ständigen Konkurrenzkampf von Kindern, Arbeit und Haushalt. Ihr Lösungsvorschlag besteht in der Vision eines „idealen Putzmannes“, etwa eines Controllers oder Top-Rechtsanwaltes, den seine Haupttätigkeit einfach nicht auslaste.
Meier-Gräwe: Zeitenwende, die sich nicht auf Rüstungsaufgaben beschränkt
In ihrem Impulsvortrag über „Die ökonomischen Folgen von ungleich verteilter Care-Arbeit“ skizzierte Uta Meier-Gräwe, Autorin und ehemalige Lehrstuhlinhaberin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaften an der Universität Gießen, wie sich im Rahmen der Herausbildung der Industriegesellschaft außerhäusliche Erwerbsarbeit und unbezahlte, häusliche Erziehungs- und Hausarbeit voneinander getrennt hätten. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass Care-Arbeit ein Fundament der Gesamtgesellschaft sei. Die damalige Sachverständige für den 1. und 2. Gleichstellungsbericht der Bundesregierung forderte eine „Um-Care“: „Wir müssen ein Modell für die faire Verteilung von Care-Arbeit finden!“ So müsse professionelle Care-Arbeit besser bezahlt werden und das in einigen Regionen noch immer zu zahlenden Schulgeld müsse zugunsten einer Ausbildungsvergütung abgeschafft werden. „Diese Berufe müssen so tarifiert und vergütet werden, dass sie auch für den interessant werden, der sonst bei VW arbeiten würde.“ Um 2030 werde bis zu ein Drittel aller Beschäftigten im Bereich Care-Arbeit arbeiten. „Sorgearbeit ist eine zentrale wirtschaftliche und gesellschaftliche Aufgabe. Wir brauchen eine Zeitenwende, die sich nicht auf Rüstungsaufgaben beschränkt“, mahnte Meier-Gräwe.
In drei parallel stattfindenden Diskussionsrunden hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich mit den Referentinnen und Referenten zu den entsprechenden Themen auszutauschen.
Eine positive Veränderung ist möglich
In der Diskussionsrunde zum „Thema Sorgearbeit und Pflege im Fokus: Gendergerechte Lösungsansätze in der Politik und Arbeitswelt“ diskutierten dbb frauen Chefin Milanie Kreutz, Katrin Lange (Bereichsleitung Europa & Nachhaltigkeit, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V.), und Stephanie Peterson (Vorständin Ressort Customer Management AXA AG) mit dem Publikum. Die Beteiligten fragten sich, warum die tradierten Rollenbilder weiterbestehen. Es brauche zur Lösung eine Neuorganisation von Erwerbs- und Sorgearbeit, wofür auch im Kapitalismus noch Spielraum bestehe (siehe Ostdeutschland oder Skandinavien). Eine positive Veränderung sei also möglich. Die neuen Werte müssen nicht gelehrt, sondern vorgelebt werden, möglichst bereits in den Kitas. Besonders wichtig sei es jetzt, Verbündete gerade in der Wirtschaft und Industrie zu finden. Die bezahlte Carearbeit monetär aufzuwerten, setze auch ein Zeichen für die unbezahlte Carearbeit. Auch Steuerfragen wie beispielsweise das Ehegattensplitting oder Freibeträge für Kinder müssen geklärt werden. Bei alldem sei ein Differenzierter Blick auf die komplexe Sachlage wichtig. Auch marginalisierte Frauen müssen im Blick bleiben. Viel zu oft seien sie die „Lückenbüßer" für Privilegierte - das darf nicht sein. Wichtig sei zudem der Solidargedanke. Milanie Kreutz betonte: „Ich möchte nicht Karriere machen auf dem Rücken von Erzieher*innen, die dann schlecht bezahlt werden und nicht gleichberechtigt leben dürfen.“
Mehr und bessere Kommunikation nötig
Zum Thema „Pflege und Sorgearbeit in Zeiten des Demografischen Wandels“ erarbeiteten Prof. Dr. Hoff und Daniela Romeis vom LBB gemeinsam mit den Teilnehmenden Lösungen. In den Diskussionen wurde schnell deutlich, dass sich viele Probleme durch bessere Kommunikation lösen lassen: Man müsse der Gesellschaft klarmachen, dass ausnahmslos alle von Sorgearbeit betroffen sind. Dafür müssen die Botschaften aber auch die gesamte Breite der Gesellschaft erreichen. Da bei der Pflege die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern aber auch zwischen den Generationen extrem unausgeglichen seien, brauche es mehr Verständnis füreinander und mehr Austausch zwischeneinader. Romeis, die selbst seit vielen Jahren in der stationären Pflege arbeitet, kritisierte die mangelhafte Nachsorgearbeit. Pflegebedürftige wollen lieber zuhause versorgt werden, die Angehörigen seien mit plötzlichem Pflegebedarf aber häufig überfordert. Hier sei ein besseres Informationsangebot für Angehörige nötig. Das Gesundheitssystem verlasse sich zu sehr auf Angehörige. Dies sei besonders dann problematisch, wenn keine Angehörigen vorhanden sind. Auf der Arbeit müssen pflegende Angehörige deutlich mit dem Arbeitgeber über Pflegezeit kommunizieren, der Arbeitgeber selbst muss aber auch kommunikativ und transparent sein. Für die Zukunft muss die Vereinbarkeit von Pflege und Arbeit Teil der Tarifverhandlungen werden.
Gewerkschaften müssen Druck machen
Prof. Dr. Uta Meier-Gräwe und Dr. Bettina Rainer (Bündnis Sorgearbeit fair teilen) sprachen mit den Teilnehmenden über die ökonomischen Folgen von ungleich verteilter Care-Arbeit. Am wichtigsten sei, Sorgeberufe ernsthaft anzugehen und Geld zu investieren. Hier Druck zu machen sei die vorrangige Aufgabe von Gewerkschaften. Auch die Reform der Wirtschaftslehre an Universitäten sei notwendig. Bestes Beispiel hierfür: Der Begriff „unterbrechungsbedingter Humankapitalverlust" steht für den Ausstieg aus dem Beruf nach der Geburt eines Kindes. In der Realität steht er aber auch für eine niedrigere Einstufung und berufliche Stagnation nach der Rückkehr. Eine der zentralen Fragen war, wie man mehr Männer als Mitstreiter gewinnen kann. Die Antworten waren, dass man Männer von Anfang an adressieren müsse, Medien müssten Geschlechterstereotype aufbrechen und strukturelle Reformen seien notwendig. Denn Männer können durch Sorgearbeit persönlich viel gewinnen und wollen das auch, befürchten aber negative Auswirkungen auf die Karriere. Die Aufteilung von Sorgearbeit werde in Partnerschaften oft nicht besprochen, das müsse sich ändern. Es gelte, Care-Arbeit zur gesellschaftlichen Arbeit zu machen, denn nicht die Frau habe das individuelle Problem bei der Familienplanung, es ist ein gesellschaftliches Problem. Die Vorhaben im Koalitionsvertrag wie z.B. Zuschüsse für haushaltsnahe Dienstleistungen müssen noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden. Dies sei längst überfällig und wäre ein gutes Signal.
Hintergrund:
Die Fachtagung stand unter dem Motto „Familie, Sorgearbeit, Altersarmut - die CAREseite der Medaille“. Die Expertinnen, Experten und Entscheidungsträgerinnen und –träger beleuchteten die Auswirkungen von Sorgearbeit auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Bedeutung von Care-Arbeit in unserer Volkswirtschaft und Gesellschaft heraus.