25. Europäischer Abend: Armee der Zukunft – national oder europäisch?

„Die europäische Welt ist nicht mehr in Ordnung.“ Mit dieser Einschätzung eröffnete der dbb Bundesvorsitzende Klaus Dauderstädt am 12. Dezember 2016 den 25. Europäischen Abend im dbb forum berlin. Diskutiert wurde die Frage „Die Armee der Zukunft - Nationale oder europäische Aufgabe?“ Kurz vor dem 60-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge scheine Europa nach diversen Krisenwellen, angeführt von der Weltfinanzkrise, „nicht mehr vereint, sondern entzweit, wenn nicht sogar vielfach gespalten“, konstatierte Dauderstädt. „Zu inneren Verwerfungen kommen alte und neue äußere Bedrohungen. Gleichzeitig ist die unmittelbare Nachbarschaft Europas besorgniserregend instabil geworden - Krieg, Chaos und zahlreiche schwelende Konflikte sind wichtige Ursachen der großen Fluchtbewegungen.“

Daher seien konkrete Überlegungen gefordert, wie Europa sicher bleiben könne, auch und gerade durch die Stabilisierung seiner Ränder und Nachbarregionen in Osteuropa, Afrika und im Nahen und Mittleren Osten. „Umfragen unter den EU-Bürgern zeigen immer wieder, dass viele von ihnen zwar manche Detailregelung aus Brüssel kritisch sehen. In den großen Zukunftsfragen gibt es aber stabile große Mehrheiten für mehr europäische Zusammenarbeit“, sagte Dauderstädt. Eine dieser großen Zukunftsfragen sei die nach der Gewährleistung der äußeren Sicherheit. „Hier sehen die Menschen durchaus die Notwendigkeit von mehr Europa.“ Daher müsse ernsthaft geprüft werden, ob und wie Europas nationale Streitkräfte stärker miteinander verzahnt werden oder gar aufgehen könnten in einer gemeinsamen europäischen Armee. Zu klären sei zudem, ob eine europäische Armee im Gegensatz zur NATO stünde oder als europäischer Pfeiler derselben eine überzeugende Antwort auf das Drängen der Amerikaner nach mehr europäischer Verantwortung böte, so der dbb Chef.

Armee der Zukunft muss sowohl nationales als auch internationales Projekt sein

In seinem Impulsvortrag zum Thema des Abends stellte Dr. Ralf Brauksiepe, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verteidigung, fest: „Die Frage nach der Zukunft der Armee ist nie eine rein technische, sondern immer auch eine politische und organisatorische.“ Brauksiepe verwies auf das aktuelle Doppelproblem der EU, „den Druck der Instabilität an der europäischen Peripherie und wachsende innere Konflikte".

Dass die amerikanischen Erwartungen an Europa in Fragen verteidigungspolitischer Lastenteilung gestiegen seien, sei unabhängig vom Ausgang der US-Wahl, so der Staatssekretär weiter. Brauksiepe erinnerte gleichzeitig daran, dass die Summe der europäischen Verteidigungsausgaben auf chinesischen und deutlich über dem russischen Niveau liege. Für Deutschland seien in 2017 acht Prozent Zuwachs im Verteidigungshaushalt vorgesehen (bei vier Prozent Gesamtanstieg).

„In der globalisierten und multipolaren Welt von heute führt kein Weg an einer weiteren Integration Europas vorbei", zeigte sich Brauksiepe überzeugt. Es gehe aber seiner Meinung nach nicht um die kurzfristige Schaffung einer europäischen Armee. Vielmehr müsse zunächst im Rahmen der Lissaboner Verträge für bessere Koordination und Integration der nationalen Streikräfte gesorgt werden. Die europäische Säule innerhalb der NATO könne beispielsweise durch die Schaffung eines europäischen Sanitätskommandos, gemeinsame Logistik- und IT-Knoten, eine integrierte Zivilschutzplanung oder verstärkte Rüstungskooperation gestärkt werden.

Bei all diesen Schritten gehe es nicht um Parallelstrukturen und Konkurrenz zur NATO, sondern um ein Komplementärprojekt, unterstrich Brauksiepe. Er kam zu dem Schluss: Die europäische Armee der Zukunft wird beides sein: nationale Streitkraft mit gesellschaftlicher und politischer Verankerung und internationales, in der EU integriertes Projekt. „Während die grundsätzliche Verantwortung für Verteidigungspolitik den EU-Mitgliedstaaten obliegt, muss die Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten vertieft werden, wann immer dies mehr Effizienz und Effektivität ermöglicht, um die Sicherheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu erhöhen", sagte er. Brauksiepe: „Die EU hat die einzigartige Fähigkeit, sowohl militärische als auch zivile Instrumente zu nutzen und diese zu kombinieren. Idealerweise sollte sich dies im Prozess der strategischen und operativen Planungen von gemeinsamen Missionen widerspiegeln." Brauksiepe nutzte die Gelegenheit, um dem dbb, dem VAB (Verband der Arbeitnehmer der Bundeswehr) und dem VBB (Verband der Beamten der Bundeswehr) für die stets konstruktive Zusammenarbeit zu danken; schließlich hätten die Reformen der vergangenen Jahre große Herausforderungen für alle Bundeswehrangehörigen mit sich gebracht, „egal ob Soldaten oder Zivilisten".

Europäische Strukturen entwickeln

Kontrovers debattiert wurde anschließend auf dem Podium. Dr. Hans-Peter Bartels, der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, machte - bezogen auf die Krisenherde im Süden einerseits und andererseits im Osten – klar: „Wir werden uns nicht aussuchen können, welche Gefahr die größere ist.“ Bartels plädierte für „Stärke und Dialog“ auch Russland gegenüber. Die Bundeswehr müsse zu flexiblen militärischen Antworten in der Lage sein und brauche dafür die notwendige personelle und materielle Ausstattung. 14.000 Soldaten würden gegenwärtig gebraucht, denn „die Lücken und Herausforderungen sind jetzt da“, sagte Bartels und fügte mit Blick auf die Ausrüstung der Truppe etwas salopp hinzu: „Das Zeug muss da sein und es muss auch funktionieren.“

Generalleutnant Ton van Loon, ehemaliger Kommandeur des deutsch-niederländischen Korps, in dem Soldaten aus 13 Staaten unter Führung Deutschlands und der Niederlande für mögliche Einsätze zur Verfügung stehen, machte als wichtigste Voraussetzung einer erfolgreichen Militärzusammenarbeit aus, dass sich die Europäer zunächst ihrer eigenen Sicherheitsinteressen bewusst werden müssen. Er sehe einen „Trump-Effekt“, so van Loon mit Blick auf den gewählten US-Präsidenten: „Die Sicherheitsinteressen Europas werden nicht mehr von Amerika mit abgedeckt. Eher wird es eine Annäherung an Russland geben.“ Wenn „Sugar Daddy“ Amerika nicht länger mitmache, sei schnelles Handeln der Europäer notwendig. Dies sei aber schwierig. Einerseits könnten die notwendigen Fähigkeiten nicht national, nur länderübergreifend aufgebaut werden. Andererseits fehle es in den Bevölkerungen der europäischen Länder an Zustimmung für große, internationale Strukturen. „Die Menschen wollen es eher überschaubar – national oder regional, das zeigen die Entwicklungen.“

Van Loon verwies auf Afghanistan, wo er von 2006 bis 2007 Kommandeur Regional Command South war, und stellte fest, dort sei die EU als Partner kaum wahrnehmbar gewesen. Man habe der USA die Rolle des „Weltpolizisten“ ganz gern überlassen. Auch jetzt bestehe die NATO vorwiegend aus den USA, „die anderen laufen hinterher“. Er glaube nicht daran, dass es bald eine europäische Armee geben werde, so Generalleutnant van Loon, „aber wenn, dann jedenfalls nicht in Konkurrenz zur NATO“.

Brigadegeneral Rainer Meyer zum Felde, Leiter der Abteilung Verteidigungspolitik und Planung, Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der NATO, verwies auf die seit Jahrzehnten anhaltende Debatte über die transatlantische Lastenteilung im Verteidigungssektor. Die USA lieferten 70 Prozent, Europa 30 Prozent des Inputs. Die Bundeswehr leide zudem unter dem „Krisenmanagement“, in das sie in der Vergangenheit geführt worden sei. Die Themen Abschreckung und Verteidigung, so die Kritik des Brigadegenerals, seien zu lange vernachlässigt worden. „Deshalb sind die schwierigen Beziehungen zu Russland nun so brisant.“ Deutschland müsse seine Rolle ernstnehmen. „An Deutschland orientieren sich andere Europäer.“ Deshalb sei die deutsche Initiative von 2013, die das Land mit 15 anderen europäischen Nationen in Arbeitsgruppen zusammenführt, ein wichtiger Schritt: „Wir haben die Fähigkeiten, und wir entwickeln auch Verteidigungsstrukturen“, sagte zum Felde. Die EU stehe nicht, wie vielfach behauptet, in Konkurrenz zur NATO, so der Brigadegeneral. Mit Blick auf Großbritannien und den Brexit stellte zum Felde fest, damit habe Europa die „professionellste Militärnation und Seemacht“ verloren. Es gelte, Kooperationen zu fördern, wo immer es geht, „und wir müssen uns den Realitäten anpassen“.

Keine europäische Armee in Sicht

Europa sei derzeit weiter von den USA entfernt als je zuvor, war eine der Thesen des ehemaligen US-amerikanischen Botschafters in Deutschland John C. Kornblum. Was die europäischen Erwartungen an den neu gewählten US-Präsidenten betrifft, charakterisierte Kornblum Donald Trump als Mann, der „jeden Tag eine neue Meinung hat“. Für das europäisch-amerikanische Verhältnis bezeichnete Kornblum die politischen Verwicklungen im Bosnien-Konflikt in den 1990er Jahren als „Kern-Katastrophe“ für das Verhältnis zwischen Europa und den USA: Vertrauen habe danach mühsam wiederaufgebaut werden müssen, die Auswirkungen auf die Zusammenarbeit seien bis heute spürbar.

Die Realisierung der bereits zu Beginn der 1950er Jahre aufgekommene Idee einer Europa-Armee beziehungsweise die Einrichtung gesamteuropäischer Streitkräfte, die dann einem europäischen Verteidigungsministerium unterstellt werden könnten, sieht Kornblum in weiter Ferne, obwohl ein solches Projekt seit dem Jahr 2000 neu diskutiert wird: Europa habe bis heute keine strategische Vision und leide unter mangelnder militärischer Planung. „Die Idee einer europäischen Armee war schon 1954 tot“, sagte Kornblum. Auf jeden Fall aber seien die Zeiten „kostenloser“ militärischer Hilfe der USA für Europa spätestens mit dem Präsidenten Trump vorbei, weil amerikanische Sicherheitsinteressen nicht mehr automatisch europäische Sicherheitsinteressen abdeckten. Das hänge auch damit zusammen, dass Deutschland seit 1990, nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges, „die strategische Mitte der Welt“ verloren beziehungsweise aufgegeben habe. Europa müsse jetzt auf der einen Seite seine Effizienz steigern und die Einheit stärken, könne aber andererseits nicht ohne die USA überleben.

Insbesondere Russland, das von Kornblum nicht mehr als strategischer Partner der EU betrachtet wird („Nur die Europäer glauben noch daran“), nutze diese Zusammenhänge aktiv aus. Zwar sei Russland nicht der erklärte Feind, aber auch kein Freund. Gefährlich sei, dass es als politisch instabiles und wirtschaftlich schwaches Land einen ausgeprägten Hang zur Expansion habe, wie derzeit an der Ukraine-Krise abzulesen sei. Eine Rückkehr zum Kalten Krieg befürchtet der ehemalige Top-Diplomat aber dennoch nicht. Stattdessen verstärke Russland seine Macht, indem es geschickt technische Errungenschaften des Westens zu politischen Waffen mache: Cyberattacken via Internet, gezielte Fehlinformationen mittels sozialer Medien, Propaganda und Agitation. Kurz: die Beeinflussung der Öffentlichkeit als moderne Form der Kriegführung. Im Ergebnis, so Kornblums Prognose, werde das aber nicht das Ende des Westens bedeuten: „Wir erleben derzeit nicht die schlimmste atlantische Krise der Geschichte, und das westliche System ist immer noch das beste System für Frieden und Freiheit.“

Zeit der Selbstverständlichkeiten ist vorbei

Dr. Tobias Lindner (Bündnis 90/Die GRÜNEN), Mitglied im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages, sieht die EU insbesondere durch neue Bedrohungen von Süden in einer gefährlichen Gemengelage: Während humanitäre und unterstützende Auslandseinsätze weiter zunähmen, rücke gleichzeitig die Verteidigung wieder in den Fokus. Zwar sieht auch Lindner keinen neuen Kalten Krieg heraufziehen. Die aktuellen Herausforderungen könnten aber nicht in nationalstaatlichen Alleingängen gemeistert werden. Die Idee einer Europäischen Armee in Form einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft sei daher alles andere als tot. Recht gab Lindner Kornblum darin, dass Europa jetzt ein gemeinsames Verständnis von Außen- und Verteidigungspolitik entwickeln müsse. Europas Stärken lägen in der militärischen Zusammenarbeit mit den außereuropäischen Partnern. Eine koordinierte europäische Außenpolitik könne, gepaart mit der Effizienz einer gemeinsamen Armee, nationale Streitkräfte auf lange Sicht verzichtbar machen, so der perspektivische Blick Lindners. Mit Blick auf Amerika konstatierte er: „Die Zeiten der Selbstverständlichkeiten sind vorbei. Darauf muss Europa jetzt schnell reagieren.“ Keinesfalls aufgeben dürfe Deutschland aber den Parlamentsvorbehalt vor militärischen Einsätzen der Bundeswehr. Zwar mache er militärische Entscheidungen nicht einfacher, „dennoch haben wir ihn wir aus triftigen historischen Gründen. Er ist eine der wichtigsten Errungenschaften des Bundestages, die nicht ausgehöhlt werden darf.“

In einem Punkt war sich das – von der Journalistin Tanja Samrotzki sachkundig moderierte – Podium einig: Der Westen wird durch gegenwärtige Krisenherde zwar nicht existenziell bedroht. Aber wenn das westliche Zusammenleben in seiner jetzigen Form weiterhin Bestand haben soll, muss dafür vieles getan werden, vor allem auch vor Ort, etwa in Afrika. „Und das müssen wir auch den Bürgern vermitteln“, brachte Ton van Loon das Problem auf den Punkt. „Oder anders gesagt: Statt der Feststellung ‚Wir schaffen das‘ sollten wir besser fragen ‘Wer sind wir?‘“

Dr. Otto Schmuck vom Präsidium der Europa-Union Deutschland erinnerte in seinem Schlusswort daran, dass die europäische Bewegung einst als Friedensbewegung gestartet war. Das entbinde das heutige Europa aber nicht von der Pflicht, seine Verteidigungspolitik weiter zu entwickeln, was nicht nur für die militärische, sondern ebenso für die gesellschaftspolitische Ausrichtung gelte. Auch Schmuck konstatierte, dass Europa ein Entwicklungsdefizit gegenüber dem Verteidigungsbündnis NATO aufzuarbeiten habe. In Anbetracht der vom EU-Austritt Großbritanniens ausgelösten Erosionserscheinungen in Europa warb Schmuck dafür, mit einer „Koalition der Willigen“ weiter an neuen Strukturen der Verteidigungs- und Außenpolitik zu arbeiten.

Der Europäische Abend wird seit zehn Jahren gemeinsam von dbb, Europa-Union Deutschland, Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement und der Vertretung der EU-Kommission in Deutschland veranstaltet und zählt in Berlin zu den etablierten europapolitischen Diskussionsforen.

 

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