6. Seniorenpolitische Fachtagung

Staat ist in der Pflicht: Mobilität sichert Teilhabe

Mobilität sichert Freiheit, soziale Teilhabe und gesellschaftliche Integration. Deswegen ist es Aufgabe des Staats, entsprechende Infrastruktur auf- und auszubauen, sagt der dbb.

„Nur wer mobil ist, kann aktiv und selbstbestimmt am Leben teilhaben und sich als Teil einer demokratischen solidarischen Gesellschaft wahrnehmen. Mobilität bedeutet insbesondere für ältere Menschen Freiheit, soziale Teilhabe und gesellschaftliche Integration“, betonte dbb Chef Ulrich Silberbach zum Auftakt der 6. Seniorenpolitischen Fachtagung am 5. Oktober 2021 in Berlin, wo unter dem Motto „Mobil sein – neue Wege gehen“ Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis vielfältige Aspekte des Themas vorstellten und diskutierten.

„Mobilität ist aber nicht nur ein Thema für die Älteren, sondern ein generationenübergreifendes Grundbedürfnis“, stellte der dbb Bundesvorsitzende klar. Daher habe der Staat grundsätzlich für eine Mobilität sicherstellende Infrastruktur zu sorgen, sowohl im städtischen Umfeld als auch im ländlichen Raum. Hier sieht Silberbach dringenden Nachholbedarf: „Maßnahmen-Kataloge haben wir jetzt genug im Regal, jetzt muss endlich was passieren: Gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen heißt, strukturschwache Regionen zu fördern, Breitband und Mobilfunk flächendeckend auszubauen und die Verkehrsinfrastruktur massiv zu stärken. Auch die Erreichbarkeit von Behörden, medizinischer wie pflegerischer Versorgung ist flächendeckend wohnortnah sicherzustellen, ebenso wie Bildungs-, Begegnungs- und Kulturangebote für alle Generationen.“ Die zunehmende Digitalisierung sei ganz sicher Teil der Lösung, indem sie mobilitätsunabhängige Ansprache und Unterstützung möglich mache und mit intelligenten Assistenzsystemen und Technologien dazu beitragen könne, die Mobilität im Alter zu erhalten oder zu erhöhen. „Gleichwohl dürfen wir ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen nicht einfach ohne Weiteres auf Computer und Internet verweisen und sie damit alleine lassen. Gerade für diese Gruppe sind zwischenmenschliche Kontakte und der persönliche Austausch unerlässlich“, sagte Silberbach.

Digitalisierung kann und darf soziale Bezüge nicht ersetzen

Auch Horst Günther Klitzing, Vorsitzender der dbb bundesseniorenvertretung, betonte die Bedeutung von Mobilität für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und den sozialen Zusammenhalt. Er warnte mit Blick auf digitale Lösungen vor allzu viel Euphorie: „Ja – zukünftiges Alltagshandeln ohne die digitalen technischen Hilfsmittel ist kaum mehr denkbar, nicht einmal das in der Gegenwart. Und ja – diese technischen Hilfsmittel besitzen große Potenziale im Hinblick auf Erleichterungen, Ermöglichungen und damit Teilhabe am Leben in der Familie und in der Gesellschaft. Es gilt aber zu beachten, dass Digitalisierung nicht dadurch neue soziale Ungleichheit schafft, dass die Voraussetzungen für den Zugang und die Nutzung digitaler Technologien bei bestimmten Gruppen der Gesellschaft nicht gegeben sind“, mahnte Klitzing. Ebenso müsse aufmerksam verfolgt werden, insbesondere in engeren sozialen Umgebungen, „dass durch die Nutzung digitaler Technologien soziale Bezüge auf funktionale Zusammenhänge reduziert werden und so die Entwicklung zu gesellschaftlicher Desintegration älterer Menschen befördert wird“.

Treppe statt Lift

In ihrem Video-Grußwort betonte die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit, Sabine Weiss, wie wichtig Bewegung für die Gesundheit im Alter ist. Leider sei dieses Bewusstsein in der Bevölkerung nicht überall präsent. „Moderate oder sportliche Bewegung kann nicht hoch genug geschätzt werden, denn sie trägt auch zum Erhalt der Eigenständigkeit bei“, so Weiss. Die Covid 19-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen habe das Bewegungsverhalten allerdings verändert und zu einem Umdenken in Sachen Mobilität geführt: „Viele Ältere sind während der Pandemie aber trotzdem aktiv gewesen, einige haben ihre sportlichen Aktivitäten sogar ausgeweitet, während andere ein paar Pfund zugelegt und an Beweglichkeit eingebüßt haben.“ 

Eine bundesweite Studie des Robert Koch Instituts (RKI) soll Antworten auf die Frage nach der derzeitigen gesundheitlichen Befindlichkeit der Menschen in der zweiten Lebenshälfte liefern. „Die Studienergebnisse sollen dabei helfen, gezielte Maßnahmen zu entwicklen, damit sich die Gesundheit und Lebenssituation älterer Menschen in Deutschland verbessern. Und wir wollen damit überprüfen, inwiefern die Corona-Maßnahmen ältere Menschen geschützt haben und welche Herausforderungen für sie entstanden sind.“ Weiss verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Programme der Bundeszentrale für politische Bildung sowie die Angebote zur Bewegungsförderung des Bundesgesundheitsministeriums. Dennoch sei ein weiterer Ausbau der Bewegungsförderung erforderlich, „um noch mehr Motivation zu schaffen und dabei auch Menschen mit Demenz nicht zu vergessen.“ Weiss rief die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fachtagung auf: „Lassen Sie öfter mal den Aufzug alleine fahren und nehmen Sie die Treppe. Gehen Sie zu Fuß zum Bäcker oder schleißen Sie sich einer Gymnastikgruppe an und bewegen Sie andere in Ihrem Umfeld zum Mitmachen.“

Best Practice „mobisaar“

Dr. Jan Alexandersson, Research Fellow im Forschungsbereich Kognitive Assistenzsysteme und Leiter der AAL Competence Center DFKI GmbH in Saarbrücken, skizzierte in seinem Fachvortrag die Vorteile praxisnah eingesetzter Künstlicher Intelligenz (KI) in öffentlichen Nahverkehrskonzepten am Beispiel des Saarlandes. Aktuelle Umfragen zeigten immer wieder, dass Menschen nicht genau wüssten, was KI eigentlich sei. „Für mich ist KI ein Werkzeugkasten mit fantastischen Möglichkeiten wenn es darum geht, maschinelle Lernverfahren gesellschaftlich einzubinden, um Menschen im Alltag zu Helfen“, erklärte der Wissenschaftler.

Das Projekt „mobisaar“, an dem Alexandersson maßgeblich beteiligt ist, hat es sich seit 2015 zum Ziel gesetzt, mobilitätseingeschränkten Menschen im Saarland die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs zu erleichtern. Die in „mobisaar“ entwickelten und noch zu entwickelnden Dienstleistungen und Techniken tragen dazu bei, Barrieren im ÖPNV zu überwinden und die Attraktivität des öffentlichen Verkehrsangebotes zu verbessern. Sukzessive sollen so alle Landkreise in das Projekt einbezogen werden mit dem Ziel, ein saarlandweites Angebot zu schaffen, das nach Abschluss des Projektes auch auf andere Regionen in Deutschland übertragen werden kann. Das Projekt „mobisaar“ baut auf den Ergebnissen des abgeschlossenen Projektes MOBIA (Mobil bis ins Alter) auf. Der ursprünglich von dem Verkehrsunternehmen Saarbahn in Saarbrücken angebotene MOBIA-Service ist an das neue „mobisaar“-Konzept integriert worden und wird in mehreren Schritten auf das gesamte Saarland ausgedehnt.

Bei der Umsetzung der innovativen Konzepte hat Alexandersson große Unterschiede zwischen der Gesellschaft seines Heimatlandes Schweden, das bereits lange inklusiv ist, und Deutschland ausgemacht: „Die Deutschen neigen zum Beispiel dazu, Leute in Kategorien zu sortieren. Außerdem werden zuerst immer zwei Fragen gestellt: Was kostet das und ist es versichert? Auf diese Weise kann man aber kaum zu Verkehrskonzepten kommen, die für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sind, denn Geld verdienen lässt sich damit kaum“, so der Forscher. Dennoch sei der gesellschaftliche Gewinn immens. Weiter könne ein inklusiver ÖPNV ebenfalls nicht funktionieren, „wenn Busfahrer zum Beispiel Güter statt Menschen transportieren.“ Mittlerweile seien die Services von „mobisaar“, bei denen zum Beispiel menschliche Verkehrslotsen über eine App buchbar sind, für alle Menschen im ÖPNV-Ticket enthalten und nutzbar. Für Alexandersson steht fest, dass technische Systeme die Individualität der Menschen berücksichtigen müssen. „Bei 'mobisaar' haben interdisziplinäre und benutzerorientierte Forschung praktisch vom modellhaften Spielbrett in die Realität geführt.“

Technische Assistenz bringt Lebensqualität

Prof. Dr. Andreas Hein vom Institut für Informatik an der Universität Oldenburg illustrierte in vielen Praxisbeispielen, wie die Unterstützung der individuellen Mobilität älterer Menschen deren Lebensqualität und Eigenständigkeit verbessern kann. Assistenzsysteme könnten hier wertvolle Beiträge leisten. „Beispielsweise kann eine App ältere Menschen zu mehr Bewegung und guter Ernährung anregen. Aber auch technische Systeme werden künftig mehr und mehr an Bedeutung gewinnen.“ Hierzu zählte der Wissenschaftler etwa Roboter unterstützte Assistenzsysteme, die zum Beispiel in der Pflege dabei assistieren können, Menschen, die länger im Bett verweilen müssen, umzulagern. „Diese Unterstützung würde zugleich auch dem Kranken- und Pflegepersonal die Arbeit erleichtern“, so Hein, der ausgehend vom 8. Altersbericht der Bundesregierung Bereiche aufzeigte, in denen computer-und robotergestützte Assistenzen in Zukunft eingesetzt werden könnten. „Vor allem sind das die Unterstützung von Mobilität bei eingeschränkten motorischen Fähigkeiten, die Unterstützung von Trainings zur Wiedergewinnung und Aufrechterhaltung von Gehfähigkeit und Balance sowie die Unterstützung von Supervision und Sicherheit und die Prävention von Mobilitätsverlusten.“

Für den letztgenannten Bereich würden im Zuge der Weiterentwicklung von Smart-Home-Systemen weitere technische Vorrichtungen wie etwa Bewegungsmelder und Lichtschranken Einzug halten, die zum Beispiel Bewegungsprofile alleinlebender oder pflegebedürftiger älterer Menschen registrieren können, um die Muster und Häufigkeit von Bewegungen in der Wohnung zu überwachen. Das diene keineswegs der Bevormundung, sondern könne mit Einverständnis der betreffenden Menschen lebensrettend sein, wenn zum Beispiel Stürze erkannt und sofort der Pflege- oder Rettungsstelle gemeldet werden.

Tiefenentspannt mit Taiji und Qigong

Als Zwischenprogramm und Entspannung für Körper und Seele lud die Dozentin des Gesundheitsprogrammbereichs der Volkshochschule Reinickendorf, Dr. Kuan-wu Lin, zum Taiji- und Qigong-Workshop ein. Beides sind Bewegungsformen, die der traditionellen chinesischen Medizin entstammen. Im Mittelpunkt stehen innere Ruhe und kollektive Konzentration, die mithilfe der unsichtbaren Energie Qi herbeigeführt werden sollen, und die als Bewegungskünste natürlich auch ganz im Zeichen der Mobilität stehen. Dabei geht es um das Zusammenspiel zwischen der Bewegung des Körpers und der Bewegung des Qi: „Das Qi geht dahin, wo die Gedanken hingehen; das Blut fließt dahin, wohin das Qi fließt. Wenn das Blut zirkuliert, werden keine Krankheiten entstehen”, erläuterte die Trainerin.

Ein Großteil der Übungen bestand aus Strecken und Dehnen, mit dem Ziel, Spannungen zu lösen. Doch auch verschiedene Akkupunkturpunkte wurden mit einbezogen: So helfe der Taiyuan-Punkt, der Quellpunkt des Lungenmeridians, zum Beispiel bei der Behandlung von akuten Notfällen wie Ohnmacht oder hohem Fieber. Neben der Bewegung und der Stimulation von gewissen Punkten wurde in dem Workshop auch Entspannung großgeschrieben: „Unsere Gehirne springen den ganzen Tag wie Affen hin und her“, und da sei bewusste Entspannung von hoher Wichtigkeit. Entspannung kann jedoch nicht mit Nichtstun gleichgesetzt werden: Nach einer halben Stunde Workshop konnte man den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Erschöpfung anmerken, und in der Stille der Konzentration war auch das eine oder andere Knacksen zu vernehmen.

Diskussion: Mobilität geht alle an

In der anschließenden Diskussionsrunde ging es bei Dr. Kuan-wu Lin dann folgerichtig auch weniger um die Mobilität Älterer im Verkehr, sondern um die individuelle körperliche und mentale Mobilität: „Ich möchte Menschen mobilisieren, damit sie etwas Gutes für ihren Körper tun und nicht komplett abhängig von Technologien und Hilfsmitteln sind.“ Beides sei in bestimmten Situation zwar notwendig ist, bedeute aber oft auch Hürden. „Für jüngere Menschen mag es zwar einfach sein, Fahrpläne und Tickets online auf mobilen Endgeräten abrufen zu können, doch ältere Generationen, vor allem ab 70, bereitet das eher Schwierigkeiten.“ Kuan-wu verwies außerdem auf den Unterschied zwischen Frauen und Männern, „denn ältere Frauen sind oft noch weniger sicher in der Anwendung moderner Kommunikationsmedien als Männer.“ Daher sei es wichtig, Älteren nicht nur Technik zur Verfügung zu stellen, sondern sie ebenso in die Lage zu versetzen, sie auch gebrauchen zu können.

Karl-Peter Naumann, Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbandes PRO BAHN, legte sein Hauptaugenmerk auf das Wohlbefinden von Bahn-Kunden. Für ihn hat Bahnfahren im Alter als bequeme Art der Fortbewegung klare Vorteile. Der Faktor, dass man dabei quasi immer in Begleitung ist, ist für Naumann gleich zweifach ideal: „Im Falle eines Sturzes oder eines anderen gesundheitlichen Notfalls ist Hilfe nicht weit. Außerdem bietet es die Möglichkeit, sich mit anderen Menschen zu unterhalten.“ Auch in Sachen Öko-Bilanz und Unterhaltungswert sei Bahnfahren unschlagbar. Naumann kritisierte allerdings die manchmal mangelnde Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Barrierefreiheit von Bahn und ÖPNV. „Wenn Zuverlässigkeit nicht oder nur bedingt gegeben ist, kann es schwerfallen, sich bewusst für eine Reise mit der Bahn zu entscheiden. Ohne Sauberkeit und Pünktlichkeit als Wohlfühlfaktoren und Barrierefreiheit als Grundvoraussetzung macht es für die Gäste eben keinen Spaß.“ Daher sei es nie verkehrt, sich in Fahrgastverbänden zu engagieren.

Für Andreas Hein bedeutet Mobilität nicht, sich in der Verkehrsplanung auf ein Verkehrsmittel als Ultima Ratio festzulegen, sondern „die je nach Situation vor Ort bestpassende Verkehrskette konsequent von der technischen Vision in die Praxis zu holen“. Im Idealfall würden Gesellschaft, Wissenschaft und Industrie dabei interdisziplinär zusammenarbeiten. Hein kritisierte, dass ein Großteil der Forschungsbudgets in allen Mobilitäts- und Assistenzbereichen derzeit noch zu industrienah ausgelegt sei. „Man muss in der Forschung auch die politische Frage nach dem stellen, was gewollt ist. Das ist ein Punkt, in dem sich die Bundesrepublik noch mehr ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung stellen muss.“

Dass Mobilität auch mit politischer Soziologie zu tun hat, erläuterte Jan Alexandersson anhand der deutschen Praxis, „in einem hochkomplexen politischen und gesellschaftlichem System ständig alles und jeden einbinden zu wollen. Das ist nicht unbedingt mein Spielplatz“, weil es Entscheidungen verkompliziere. Auf der anderen Seite sei es ihm völlig unverständlich, warum ÖPNV-Tickets hierzulande an Ländergrenzen endeten: „Europa wird viel zu sehr von Zuständigkeitswirrwarr und Kleinstaaterei zerteilt. Dabei müssen wir alle an einen Tisch setzen, damit in Zukunft politisches Gerangel zum Beispiel nicht mehr zu baulichen Konsequenzen führt. Ein einmal falsch konzipierter Bahnsteig hat über Dekaden Auswirkungen auf die Barrierefreiheit.“ Was fehle sei ein bewussteres Wir-Gefühl: „Wenn alle zusammen das Gefühl haben, etwas erreichen zu können, lassen sich innovative Konzepte schneller und besser umsetzen.“

In seinem Schlusswort unterstrich der Zweite Vorsitzende der dbb bundesseniorenvertretung Norbert Lütke die Notwendigkeit eines nutzerfreundlichen, an die Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen angepassten öffentlichen Nah- und Fernverkehrs für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. „Das Projekt 'mobisaar' zeigt, wie es gehen kann“, so Lütke. Ebenso müssten Forschung und Entwicklung innovativer Technologien, die die Beweglichkeit des Einzelnen fördern und erhalten, konsequent gefördert werden: „Die Forschung auf diesem Gebiet ist wichtig, und die Entwicklungen werden die Pflege verändern und können möglicherweise den Pflegenotstand mindern.“

 

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