Interview mit Willi Russ

Tarifeinheit: Wie geht es jetzt weiter?

Willi Russ, Zweiter Vorsitzender und Fachvorstand Tarifpolitik des dbb, sieht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Tarifeinheitsgesetz die Idee des Flächentarifvertrags massiv bedroht.

Ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts jetzt ein herber Rückschlag für den dbb und seine Fachgewerkschaften?

Nein. Rein tariftechnisch überhaupt nicht. Karlsruhe hat erkannt, dass das TEG keine Vorkehrung dafür trifft, die Interessen der Minderheitsgewerkschaften zu wahren, und den Gesetzgeber zu Nachbesserungen verpflichtet, immerhin. Auch das Streikrecht bleibt für alle Gewerkschaften bestehen. Trotzdem ist die Entscheidung meiner Ansicht nach falsch, weil das TEG beim Grundrechtseingriff viel zu weit geht und gar nichts besser, sondern vieles schlechter macht – so haben es auch die Verfassungsrichter Prof. Dr. Baer und Prof. Dr. Paulus in ihren Voten gegen den Mehrheitsbeschluss des Senats deutlich gemacht.

Sind die vom Bundesverfassungsgericht geforderten Nachbesserungen zum Schutz der Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie ausreichend?

Die Praxis wird zeigen müssen, ob das Gesetz überhaupt taugt – nicht wenige Experten und Praktiker auf beiden Seiten der Sozialpartner sind sich sicher, dass man es einfach links liegen lassen sollte. Neben den vom Gesetzgeber geforderten Maßnahmen haben nun die Arbeitsgerichte den „Schwarzen Peter“: Sie müssen sich mit einem ganzen Kanon von Maßgaben, Prüfungen und empirischen Fragen auseinandersetzen und dafür sorgen, dass die Tarifautonomie ausreichend geschützt wird. Auch die Antwort auf unsere konkrete Frage, wie das Gesetz im öffentlichen Dienst überhaupt praktikabel gemacht werden soll, ist Karlsruhe schuldig geblieben. Es gibt hier den klassischen Betriebsbegriff, auf den das Gesetz zentral abstellt, überhaupt nicht. Soll jetzt in jedem Rathaus, Finanzamt und Ministerium einzeln gezählt werden, welche Organisation wie viele Mitglieder hat? Und wen gehen so persönliche Daten der Beschäftigten wie die Gewerkschaftsmitgliedschaft überhaupt etwas an? Mit seinem Mehrheitsmechanismus, sollte er denn je zum Tragen kommen, schwächt das Gesetz die Kampfkraft der Arbeitnehmervertretungen insgesamt. Wir jedenfalls werden die Interessen der Mitglieder unserer Fachgewerkschaften auch weiterhin im Rahmen der Koalitionsfreiheit und der vom Gericht klar bestätigten Tarifautonomie vertreten. Möglicherweise wird es dann etwas „ruppiger“ hergehen.

Begeisterung klingt anders...

Das TEG war, ist und bleibt auch nach dem Urteil ein manifestierter Angriff auf die Koalitionsfreiheit von Arbeitnehmern und auf die Tarifautonomie. Glücklicherweise hat das Verfassungsgericht strenge Leitplanken eingezogen, damit die zahlenmäßig kleineren Organisationen sich nicht dem Diktat der mitgliederstärkeren unterwerfen müssen. Der Tarifpolitik in Deutschland ist mit alldem gleichwohl kein Gefallen getan. Die Regelungen werden nicht, wie von den Machern des Gesetzes behauptet, zu einer Befriedung des ohnehin nicht sehr konfrontativen Tarifgeschehens in unserem Land führen, sondern im Gegenteil zu einer Verschärfung der Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften. Mit einer Verlagerung der Tarifpolitik auf die Betriebsebene wird die Idee des Flächentarifs zudem gänzlich zerschossen. Insofern werden wir die Umsetzung des TEG jetzt sehr genau beobachten und gegebenenfalls eine erneute rechtliche Prüfung des Gesetzes angehen.

 

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