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PISA-Studie zeigt erneut Handlungsbedarf in der Bildungspolitik auf
Die am 5. Dezember 2023 veröffentlichten Ergebnisse der aktuellen PISA-Studie, einer internatio-nalen Testung von 15-Jährigen auf ihre mathematischen und naturwissenschaftlichen Fähigkei-ten sowie ihre Lesekompetenz und einer Befragung zu ihrer Situation, zeigt: Die Durchschnitts-ergebnisse in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften sind deutlich schwächer als 2018 und entsprechen dem Lernfortschritt eines halben beziehungsweise ganzen Schuljahres.
Dazu kommentiert der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand: „Das sind natürlich keine wünschenswerten Ergebnisse, aber die üblichen Reflexe werden uns nicht helfen. Dem Ruf nach Fokussierung auf die Basiskompetenzen erteile ich schon im Voraus eine scharfe Absage. Werden Kinder nicht ganzheitlich gebildet, lernen sie nicht so gut. Sprachen, Kunst und Musik müssen genauso einen festen Platz im Lehrplan haben wie Deutsch und Mathematik. Wir müssen bilden und erziehen mit Kopf, Herz und Hand.“
Die Gründe für das schlechte Abschneiden sieht Brand im Lehrkräftemangel und den Folgen der Einschränkungen während der Corona-Pandemie, insbesondere aufgrund der defizitären Digitalisierung der Schulen. Das bestätige auch die Befragung der Jugendlichen. „Jetzt zeigt sich, was Mangel heißt. Vertretungsstunden und Schulausfall haben Konsequenzen! Die Politik sollte das als Warnruf annehmen, ihre Bemühungen bei der Bekämpfung des Lehrkräftemangels noch deutlich auszuweiten.“ Gleichwohl verweist der VBE Bundesvorsitzende auf die Leistungen der Lehrkräfte: „Gerade in Pandemiezeiten, aber auch danach, hat nur das hohe Engagement der Lehrkräfte dazu geführt, dass die Ergebnisse nicht noch viel verheerender sind. Sie arbeiten unter widrigen Umständen. Und: Die Ansprüche an Schule sind hoch und werden immer höher. Gleichzeitig wird die Zusammensetzung im Klassenraum immer herausfordernder. Kinder mit Förderbedarfen, mit Sprachschwierigkeiten, aber auch jene mit besonderen Talenten müssen alle individuell gefördert werden. Das schafft eine Lehrkraft allein nicht. Daher braucht es multiprofessionelle Teams an den Schulen, damit alle Professionen zusammenwirken können.“
Ein Hauptproblem, für das Deutschland in internationalen Vergleichen stets angemahnt wird, sei außerdem die soziale Ungleichheit. „Die Ergebnisse führen die Politik vor. Der Abstand zwischen Vermögenden und Armen bleibt gleich groß. Die Bemühungen, den Bildungserfolg von der sozioökonomischen Ausstattung des Elternhauses der Schülerinnen und Schüler abzukoppeln, sind nicht ausreichend. Nun muss der PISA-Ruck durch Deutschland gehen.“
Für den Deutschen Philologenverband (DPhV) zeigen die PISA-Ergebnisse: Die Leistungsschere ist nicht weiter aufgegangen, der Abstand zwischen den leistungsstärksten und -schwächsten Schülerinnen und Schüler verändere sich im jüngsten Zeitraum nicht signifikant. Die Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing dankte vor diesem Hintergrund den engagierten Lehrkräften in Deutschland: „Es ist angesichts der vielen belastenden Bedingungen beeindruckend, was unsere Lehrkräfte tagtäglich leisten. Das äußert sich nicht zuletzt auch in den zusätzlichen Unterstützungsangeboten, die die große Mehrheit der Schüler und Schülerinnen ihren Lehrkräften etwa im Mathematik-Unterricht bescheinigen.“
Selbstverständlich könne man zum anderen mit der Leistungsentwicklung über die Zeit betrachtet überhaupt nicht zufrieden sein. Lin-Klitzing: „Obwohl die Studie schulische Bildungsziele als Gesamtheit nicht ausreichend abbildet, bestätigt sie doch insgesamt leider negative Trends, die wir seit Jahren beobachten.“
Die Gründe für die nicht zufriedenstellenden Ergebnisse sind laut Lin-Klitzing dabei zum Teil hausgemacht. So litten die Lernergebnisse vieler Schülerinnen und Schüler auch unter den derzeit sehr herausfordernden Rahmenbedingungen für das System Schule insgesamt und für die Lehrkräfte. Lin-Klitzing: „Es ist es wichtig, dass die Politik den Fachunterricht wieder zur Priorität erklärt. Lehrkräfte müssen umgehend und nachhaltig von Unterrichts-fernen Aufgaben entlastet werden – sie sind weder Hilfskräfte in der Verwaltung, Sozialarbeiter noch Reiseverkehrskaufleute. Sie sind Fachleute für die Vermittlung ihrer Fächer – die brauchen wir, wie die fachlichen Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler in PISA zeigen, heute mehr denn je. Und wir müssen dafür sorgen, dass Lehrkräfte das auch in Zukunft bleiben. Deswegen müssen die Fachwissenschaften in der ersten Phase der Lehrkräftebildung erkennbar gestärkt werden, statt sie zu Gunsten wechselnder gesellschaftlicher ‚Reparaturaufgaben‘ immer weiter an den Rand zu drängen.“
Und auch wenn der Schwerpunkt in diesem Jahr auf Mathematik liege, so seien aus Sicht des DPhV die abfallenden Leistungen in der Lesekompetenz seit 2015 zu beklagen. Lin-Klitzing: „Das Beherrschen der deutschen Sprache ist und bleibt die Grundlage unserer Kultur und damit das Fundament unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wir dürfen es einfach nicht hinnehmen, dass sie von so vielen jungen Menschen in unserem Land nicht ausreichend beherrscht wird.“
Der Verband Deutscher Realschullehrer (VDR) empfiehlt, das bei allen Schularten festgestellte Absinken der Leistungsniveaus bei der PISA-Vergleichsstudie ernst zu nehmen, aber auch nicht in Panik zu verfallen. Vielmehr müssten aus den Ergebnissen die richtigen Schlüsse gezogen werden. „Die neuen PISA-Ergebnisse können uns nicht zufriedenstellen, aber im Gegensatz zu vorhergehenden Erhebungen lässt sich das über alle Schularten hinweg beobachtete Absinken der Leistungsniveaus mit einiger Wahrscheinlichkeit auf zwei externe Einflüsse zurückführen“, analysiert der VDR Bundesvorsitzende Ralf Neugschwender. Er erklärt: „Zum einen sind die in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten strikteren Schuleinschränkungen während der Corona-Pandemie zu nennen und zum anderen die Zunahme der Heterogenität in den Klassenzimmern bedingt durch die Zuwanderung.“
Die in der PISA-Studie erstmals aufgenommenen Kapitel „Digitalisierungsbezogene schulische & außerschulische Lerngelegenheiten“ sowie „Coronapandemiebedingte Auswirkungen“ ermöglichten wichtige Rückschlüsse auf den Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen. Neugschwender bewertet die strikten Einschränkungen während der Pandemie in der Rückschau ambivalent: „Die in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern langen Phasen der Schulschließungen haben dazu geführt, dass leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler die klare Struktur des Präsenzunterrichts nicht mehr vollumfänglich erfahren und deshalb im Distanzunterricht mehr Defizite aufgebaut haben als leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler.“ In diesem Zusammenhang seien auch die unterschiedlichen Lernumgebungen im Elternhaus zu nennen. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass jeder Schüler zu Hause über einen geeigneten Arbeitsplatz verfüge.
Der VDR Vorsitzende zieht daher eine wichtige Schlussfolgerung aus der Studie: „Für uns ist klar: Die Lehrkraft als direkte Bezugsperson ist entscheidend für den Lernerfolg von Kindern und Jugendlichen.“ Die fachliche Tiefe und klare Struktur eines professionell geplanten Unterrichts im Klassenzimmer gebe den Schülerinnen und Schülern Orientierung und ermögliche, Aufgabenstellungen direkt mit der Lehrkraft zu klären. Dabei bilde die soziale und persönliche Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülern den Kern beim Erwerb von Lerninhalten und sozialen Kompetenzen. „Die Lehrkraft ist dabei nicht Lernbegleiter, sondern schafft über ein gutes ‚classroom management‘ erst die Voraussetzung, dass Lernen gelingt“, so Neugschwender.